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«Ich glaube, dass Gott dich gesandt hat»

An einem regnerischen Morgen steige ich in Bern in den Zug ein. Die Fahrt nach Zürich will ich mit einer Tasse Kaffee geniessen. Im fast vollen Zugrestaurant ist ein Platz vis à vis einer Muslima frei. Sie begrüsst mich herzlich und stellt sich vor: Sie heisst Hadia («Geschenk Gottes») und ist aus einem arabischen Land für eine Weiterbildung für zehn Tage in die Schweiz gekommen. Als sie mir in Englisch von ihren ambitionierten beruflichen Zielen erzählt, frage ich, ob sie Single sei. Sie bejaht und ergänzt: «Bis vor kurzem habe ich bei meiner Mutter gelebt.» Ihre Augen füllen sich mit Tränen: «Ich vermisse meine Mutter sehr. Sie ist vor zwei Jahren verstorben. Sie war die einzige Person, bei der ich ganz ich selbst sein konnte.»

Gedanken voller Hoffnung
Hadia öffnet mir ihr Herz: «Ich versuche die ganze Zeit, die Fassade einer starken Frau aufrechtzuerhalten. Einerseits bin ich die Älteste in der Familie und habe immer für die anderen gesorgt, andererseits brauche ich diese Stärke, um mich beruflich zu profilieren.» Wieder weint sie. Ich höre zu und verstehe, wie sehr sie sich unter Druck fühlt. Sie drückt ihre riesige Sehnsucht aus, sich selbst sein zu dürfen: In ihrem Land, im familiären System, als Frau, ja – als Hadia. Ich spreche ihr zu, dass Gott sie sieht, Gedanken voller Hoffnung über ihrem Leben hat und auch ihre feinfühlige Seite liebt und bejaht. Sie nickt sichtlich berührt. Ich erzähle: «Beim himmlischen Vater darf ich ganz ich selbst sein, auch in meiner Schwachheit. Seine Liebe und sein Friede trösten mich immer wieder neu.» Ich versichere ihr, dass Gott gerade schwierige Situationen gebrauchen möchte, um ihr seine Liebe tiefer zu zeigen. So lege ich meine Hand auf ihre. Gerne lässt sie für sich beten und umarmt mich am Ende herzlich. Wir tauschen unsere Telefonnummern aus, dann steige ich in Zürich aus und Hadia fährt nach Kloten, um in ihr Heimatland zurück zu fliegen.

«Ich bin so dankbar, dass wir uns begegnet sind!»
Als ich ihr ein paar Tage später eine WhatsApp-Nachricht schreibe, antwortet sie: «Guten Morgen Kathrin, du kannst dir nicht vorstellen wie glücklich ich bin, von dir zu hören. Ich bin letzten Montag nach einer langen Reise zuhause angekommen. Das einzige, worüber ich während meiner Reise nachdenken konnte, war unser Treffen im Zug. Ich bin so dankbar, dass wir uns begegnet sind. Es tut mir leid, dass du all die Tränen sehen musstest. Ich hoffe, wir werden weiter in Kontakt bleiben. Ich glaube, dass Gott dich an diesem Tag für mich gesandt hat. Danke für dein Zuhören und dein Gebet, mein Engel.» Ich würde mich zwar selbst nicht als Engel bezeichnen – aber ich liebe es, dass Gott uns zur richtigen Zeit an den richtigen Ort führen kann.


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