Histoires

Verschüttete Qualitäten freisetzen

Im April dieses Jahres haben wir im Patchwork-Projekt mit einer neuen Näh-Gruppe begonnen. Alle Teilnehmerinnen stammen aus einem Armenviertel, wo sie als alleinerziehende, kinderreiche Mütter oft unter schwierigsten Bedingungen leben. Als Behausung dient ihnen eine drei mal vier Meter kleine Hütte aus einfachem Sperrholz.

Ein Mal pro Woche kommen die Frauen in unsere kleine Werkstatt, um den Umgang mit Nadel und Faden zu lernen. Während zu Hause der Hunger nagt, Krankheit, Verzweiflung, Gewalt und Zerstörung herrschen, erleben sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen liebe- und würdevollen Umgang, bedingungslose Hilfe, Ermutigung und Achtung. Ganz wichtig ist uns, dass sie durch unser Vorbild Jesu Liebe erfahren. In den Andachten erzählen wir ihnen aus der Bibel. Oft fliessen Tränen, weil Gottes Wort sie tief berührt.

In der neuen Gruppe sticht Olga heraus. Sie hat vier Kinder. Eines Tages kommt sie mit einer Gehirnerschütterung in die Werkstatt. Sie zeigt uns die Kratzer und Beulen von den Schlägen ihres Mannes. Er wohnt nicht bei der Familie. Niemand weiss, wo er sich herumtreibt. Wenn er kommt, schlägt er. Olga hat keine Kraft mehr, die Initiative zu ergreifen, um eine Lösung zu finden. Seit 13 Jahren erträgt sie die Misshandlungen. Für ihre Kinder muss sie selbst sorgen. In ihrer Not wäscht sie 12 Stunden am Tag in einer Fabrik Flaschen - für einen Tageslohn von umgerechnet sieben Franken. Vor zwei Jahren hatte ihr Mann sie gezwungen, eine Hypothek auf ihr Hüttchen aufzunehmen. Danach verschwand er mit dem Geld. Aber die Bank klopft unerbittlich an ihre Tür. Auch im Tante-Emma-Laden nebenan, wo sie oft auf Kredit einkaufen muss, türmen sich die Schulden.

Wir ermutigen Olga, mit ihren vier Kindern unterzutauchen. Das Wohlbefinden aller steht auf dem Spiel. Es ist höchste Zeit, Anzeige zu erstatten und vor allem die Kinder zu schützen. Wie lange geht es noch, bis der Mann sich an seinen Töchtern vergreift? Die Realität vor Ort sagt, dass es fünf vor zwölf ist!

Nun geht es los mit Landsuche und Verhandeln. Auf allen Vieren kraxeln wir auf den steilen Hügeln herum, auf der Suche nach einem Platz für Olga. Mitten im Nirgendwo, völlig vom winterlichen Nebel eingehüllt, finden wir Menschen, die bereit sind, ein Stück Land zu einem günstigen Preis an Olga zu verkaufen. Wir kaufen 200 Quadratmeter Fels und Stein an einem steilen Hang. Ein schriftlicher Vertrag ist nicht üblich; das gesprochene Wort vor den Nachbarn als Zeugen zählt. Ich bin erstaunt über die Solidarität. Sie machen selbst den Vorschlag, Olga als ihre Verwandte zu bezeichnen und keine weiteren Auskünfte zu geben.

Nun muss dieser Platz bearbeitet werden: Felsen sprengen, Steine wegtragen - eine überaus harte Arbeit. Unterdessen lernt Olga weiter fleissig im Projekt. Doch wir spüren ihre Angst und ihr Misstrauen. Ungeachtet dessen wollen wir sie ermutigen - im Vertrauen darauf, dass Gott ihr begegnet und sie mit seiner Liebe erreicht.

Olgas Misstrauen und Resignation erinnert uns an viele „unserer“ Frauen in der Anfangsphase in der Werkstatt. In den vergangenen acht Jahren hat Gott die Herzen der Frauen verändert. Sie sind zu treuen Nachfolgerinnen Jesu geworden. Einige dieser Frauen helfen nun, die Anfängerinnen anzulernen. Sie entdecken plötzlich Fähigkeiten, die früher von Elend und Not zugeschüttet waren.

 

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