Histoires

Alle haben Zeit für einen kurzen Schwatz

Nun sind wir also bereits seit über zehn Monaten in Westafrika zu Hause – ja, tatsächlich, ich schreibe «zu Hause», es ist ein bisschen Heimat geworden. Vieles ist gewohnt oder man hat sich daran gewöhnt – Nestbau, auch hier in Conakry, «der hässlichsten Hauptstadt der Welt», wie es uns ein Freund vor unserer Ausreise schmackhaft gemacht hatte. Die guineischen Nachbarn sind mir ans Herz gewachsen, die vielen Kinder, die Mütter mit den Babys am Rücken. Sie alle wärmen mein Herz, wenn sie mir begegnen: immer ein freundliches Grüssen, ein Nachfragen nach der Gesundheit und der Familie. Hier ist niemand in Eile und kreuzt meinen Weg nicht mit einem Tunnelblick, im Gegenteil – trotz viel Anstrengung und Arbeit, die der Alltag hier mit sich bringt, haben alle Zeit für einen kurzen Schwatz. Das empfinde ich als grosse Chance, auch um über den Glauben reden zu können, meistens jedenfalls. Vor kurzem jedoch war ich wirklich in Zeitdruck und auf meiner langen «To-do-Liste» stand der «kurze» Besuch im kleinen Lebensmittelladen…

«Noch schnell, schnell…» – das funktioniert hier nicht!
Vor dem Laden sehe ich, dass die ganze Belegschaft beim Eingang auf dem Boden sitzt und Reis isst – keine Chance, irgendwie hineinzugelangen. So heisst es für mich, Zähne zusammenbeissen und überlegen, wie ich diese Situation auch ohne inneren Wutanfall bewältigen kann. Zu meinem Glück zahlt sich aus, dass ich bereits «best friends» mit dem Ladenchef bin. Er spürt wohl mein Dilemma und bietet mir seine Hilfe an: Er meint, er könne ja schon mal beginnen, die Quittung zu schreiben. Da ich gut schweizerisch einen Einkaufszettel vorbereitet habe, kann ich ihm vorlesen, was ich dann nachher kaufen will. Quittung schreiben dauert eine Weile, jedes Produkt wird einzeln notiert – zuerst aber den Block suchen, dann den Kugelschreiber, der aber nicht schreibt – im Laden eine neue Schachtel mit Schreibstiften suchen und dann kann es beginnen.

Grosse Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit
Nach der Quittungsschreiberei ist dann der Reistopf auch leer, und so kann mit dem Zusammensuchen meiner gewünschten Produkte begonnen werden. Nur, die Oliven, die «Madame» (wie man mich hier anspricht) möchte, diejenigen ohne Steine, sind nicht vorhanden. Also wird der Lehrling in die Nachbarläden geschickt, um die richtigen Oliven zu suchen. Er findet sie – nur der Preis ist natürlich anders als derjenige, der bereits auf der Quittung steht. Im letzten Augenblick kann ich verhindern, dass die ganze Prozedur mit einer neuen Quittung wieder von vorne beginnt – denn durchstreichen ist hier nicht vorgesehen. Wir einigen uns auf den bereits aufgeschriebenen Preis zu meinen Gunsten. Ich schwitze, und nun kommt bei dieser Hitze in der ungekühlten Boutique und bei 90 % Luftfeuchtigkeit ein lebensrettendes Detail: Seit ungefähr sechs Monaten bekomme ich nach jedem Einkauf ein gekühltes Tonic geschenkt, weil der Ladenchef sehr schnell gemerkt hat, dass es das Lieblingsgetränk von «Madame» ist.

Kostenlos einüben, was in Europa viel kosten würde
Ah ja, und noch dies: Der Stempel «payé» (bezahlt) war am Ende des Einkaufs auch verschwunden – nach langem Suchen nahm der Verkäufer schliesslich den Stempel «non payé» und strich das «non» durch!Eine Übung zur «Entschleunigung» würde man diesen Einkauf wohl im Westen nennen – wo es auch ausgeschriebene, teure Kurse und Seminare gibt, um genau das zu lernen. Hier in Afrika ist das gratis und täglich zu haben – für mich als effizient und organisiert denkender Mensch eine echte Lebensschule.

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